R. Klieber: Jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten

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Titel
Jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie. 1848-1918


Autor(en)
Klieber, Rupert
Erschienen
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Huber, Internationales Graduiertenkolleg Politische Kommunikation, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Rupert Klieber kratzt in seiner Studie stark am besonders im 19. Jahrhundert verbreiteten Bild von der Habsburgermonarchie als "katholischer Großmacht". 1 In seiner kirchenhistorischen Dissertation widmet sich der bereits habilitierte Wiener Kirchenhistoriker gleich mehreren religionshistorischen Forschungslücken: Abgesehen von handbuchartigen Überblicksdarstellungen 2 gelten die vielschichtigen religiösen Landschaften der Habsburgermonarchie durchaus als unerforscht; die sprachliche wie auch konfessionelle Pluralität der Monarchie stellt nämlich an eingehende Gesamtdarstellungen ganz erhebliche Anforderungen. In dieses noch weitgehend unbearbeitete Feld dringt die Studie vor. Darüber hinaus versteht sich Klieber als Mediator zwischen den sich in Österreich häufig noch als Fremde begegnenden kirchen- und ‚profanhistorischen’ Disziplinen. Nimmt die Kirchenhistorie bevorzugt einen stark institutionenzentrierten und konfessionsbezogenen Blick ein, so muss man den restlichen historischen Fächern nach wie vor eine bestimmte „Konfessionsblindheit“ (D. Langewiesche) attestieren.

Diese Desiderata vor den Augen, verfolgt Klieber in seiner Studie die ambitionierte Frage, „in welcher Intensität und in welchen Formen der Faktor ‚Religion’ das Leben der Bewohner der Habsburgermonarchie bestimmte“ (S. 20). Konkret richtet sich das Interesse auf religiös bestimmte Alltagsvollzüge in den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, die durch alltags- bzw. lebensgeschichtliche Ansätze gewonnen werden sollen. Nicht eine in „statistische Durchschnittswerten“ (S. 13) eingeebnete Religionsgeschichte, sondern „dichte Beschreibungen“ sollen die religiösen Lebenswelten – weitgehend synonym mit „religiösem Alltag“ verwendet – der Habsburgermonarchie greifbar machen. Der Autor versteht das am Wiener Institut für Kirchengeschichte ausgearbeitete Konzept einer „Kirchlichen Sozial- und Religiösen Alltagsgeschichte“ durchaus programmatisch: Masternarrative sollen konkretisiert, abstrakte historiographische Generalisierungen korrigiert, „der kleine Mann“ in diese integriert und „konfessionelle Kurzsichtigkeit“ (S. 18) überwunden werden.

Ein wesentliches Versäumnis der breit angelegten, mit 252 Textseiten etwas schmal ausgefallenen Studie – so viel kann vorweggenommen werden – liegt in ihrer Gliederung. Klieber handelt die Religionsgemeinschaften der Habsburgermonarchie in einzelnen Abschnitten getrennt ab, als wenig überzeugendes und nicht weiter problematisiertes Kriterium der Anordnung dient die „Anciennität“ der Glaubensgemeinschaften: So werden der Reihe nach jüdische, unierte bzw. orthodoxe, katholische, muslimische und schließlich protestantische „Lebenswelten“ rigide voneinander separiert durchleuchtet. Parallelen und Interdependenzen kommen somit gar nicht bzw. nur punktuell in den Blick.

Dennoch gelingt es Klieber, die knappen Skizzen zu den einzelnen Religionsgemeinschaften, unterstützt von den über 60 Abbildungen und Karten, instruktiv und plastisch zu fassen. Eindrücklich ist die Bandbreite der behandelten Gruppierungen: Neben orthodoxen, chassidischen oder assimilierten Juden, den diversen nationalen, in unierte und orthodoxe Gemeinschaften gegliederten Ostkirchen, Reformierten und Lutheranern sowie weiteren kleineren protestantischen Splittergruppen bietet die Studie der katholischen Kirche wie auch den bosnischen Muslimen Raum. Die religiöse Kartographie Kliebers, sieht man von Deutsch- oder Altkatholiken ab, kennt in der Tat kaum weiße Flecken.

Ein wesentliches Augenmerk gilt den Diskrepanzen zwischen populär-naturalistischer, ‚außerkirchlicher’ und normierter, offizieller Religiosität: Diese Spannungen waren in unterschiedlichem Ausmaß allen religiösen Gruppierungen gemein, markante Abweichungen ließen sich indes nur in der Aufmerksamkeit, die das jeweilige religiöse Personal diesen widmete, registrieren. So war der ostkirchliche, besonders der armenische Klerus Galiziens fest in die volksreligiöse Praxis integriert, während dessen katholische Kollegen sich gegenüber außerkirchlichen religiösen Praktiken mitunter äußerst skeptisch zeigten.

Einen weiteren Schwerpunkt legt Klieber auf das Verhältnis zwischen den Gläubigen und ihrem religiösen professionellen Personal. Erwartungsgemäß erwies sich die Katholische Kirche am resistentesten gegen die Partizipation von Laien, die jedoch dennoch zunehmend Raum in Bruderschaften, Vereinen und schließlich politischen Parteien fanden, wenngleich der klerikale Einfluss auch hier lange Zeit dominant blieb. Dagegen boten nicht nur die protestantischen Kirchen, sondern auch serbische-orthodoxe Gemeinschaften offene und demokratische religiöse Strukturen, so dass Laien mitunter starken Einfluss auf ihr religiöses Personal gewinnen konnten bzw. die Teilhabe an kirchlichen Gremien vielfach als „Surrogat für vermisste politische Mitbestimmung“ (S. 95) gedeutet werden kann. Umgekehrt nahmen klerikale Kuratel und kirchliche Strukturen in der lutheranischen Kirche Siebenbürgens geradezu „katholische“ Dimensionen an.

Wenngleich die Geschichte der religiösen Funktionäre weitgehend eine Männergeschichte ist, so variierte die Rolle, die Frauen innerhalb der diversen Gemeinschaften einnehmen konnten, ganz erheblich. In allen Gemeinschaften spielten Frauen besonders in der privaten, häuslichen Religiosität eine zentrale, in außerkirchlichen Praktiken vielfach eine dominante Rolle. Wirkliche strukturelle Karrierechancen bot indes nur die Katholische Kirche, besonders aufgrund des veritablen Booms weiblicher Orden nach 1850. Vielfach waren eheliche Verbindungen mit dem religiösen Personal der einzige weibliche Aufstiegskanal; lediglich im Judentum konnten Frauen noch den Rang einer Vorbeterin erreichen – von den Moscheen in Bosnien blieben sie zumeist ganz ausgeschlossen.

Komplexe Gemengelagen kennzeichneten die Verhältnisse zwischen Nation und Religion. Hier kam es zu ganz unterschiedlichen Überlappungen oder „Differenzverstärkungen“ (S. 86). In vielen Fällen entwickelten sich religiöse zu nationalen Bekenntnissen, das religiöse Personal fungierte zudem häufig als Trägerschicht nationaler Bewegungen. Als Reaktion auf eine drohende „Polonisierung“ nach dem staatsrechtlichen Ausgleich von 1867, forderten beispielsweise ukrainische Geistliche wie Laien die Akzentuierung einer „russischen Orthodoxie“ ein, die gegen polnisch-katholische bzw. griechisch-katholische Latinismen aufgewertet werden sollte. Ähnlich ist auch die Los-von-Rom Bewegung zu verstehen, die aus einem deutschnationalen Impetus heraus um 1900 zu konfessionellen Spannungen, Konversionen zum Protestantismus und mithin auch zur Transformation des deutschsprachigen Protestantismus führte.

Die Vielschichtigkeit und Komplexität der „habsburgischen“ Religionsgeschichte wie auch die prägende Funktion religiöser Lebensvollzüge gehen aus der Studie deutlich hervor. Ob Rupert Klieber hierzu die geeigneten Mittel wählt, bleibt indes fraglich. Der „alltagsgeschichtliche“ Ansatz überzeugt nicht an allen Stellen, zumal Klieber über weite Passagen für seine Argumentation auf statistisches Material zurückgreifen muss. Der geradezu strukturgeschichtliche Indikator der katholischen „Kirchlichkeit“ etwa, also die Zahl des religiösen Personals pro 100.000 Einwohner, sagt wenig über den religiösen Alltag der Gläubigen, Modi der religiösen Kommunikation oder Vergesellschaftung aus.

Irritierend wirkt stellenweise auch die gewählte Terminologie: „Milieu“ beispielsweise findet eine variierende und diffuse Verwendung. Zwar wird knapp auf einschlägige – ältere – Milieutheorien verwiesen, die offene Verwendung des Begriffs, der teilweise synonym mit Konfession bzw. konfessioneller Gruppe, regionaler Gesellschaft oder auch im Sinne einer sozialmoralischen Vergesellschaftung gebraucht wird, entzieht dem Begriff aber viel an analytischer Kraft. Auch die neuere, seit Mitte der 1990er-Jahre erschienene konzeptionelle religionshistorische bzw. religionssoziologische Literatur wird nicht wahrgenommen, was die theoretischen und begrifflichen Grundlagen des Buches deutlich einschränkt.

Insgesamt jedoch stellen Rupert Kliebers reich bebilderte „Lebenswelten“ aber eine anerkennenswerte Syntheseleistung dar, die religionshistorisch für die Habsburgermonarchie Neuland erkundet und ein Gesprächsangebot darstellt, dem viel Resonanz zu wünschen ist. Die Studie verdeutlicht, dass unter dem Schirm der „Katholischen Großmacht“ eine bunte, vitale und plurale Bekenntnis- und Religionsvielfalt existierte. Wenngleich die katholische Kirche vielfach privilegiert blieb, genossen auch andere Glaubensgemeinschaften rechtlichen Schutz und Förderung. Andererseits hatte das in den 1860er-Jahren einsetzende österreichische konstitutionelle „state-building“, etwa in Form der Verstaatlichung des Bildungswesens, nicht nur Auswirkungen auf die katholische Kirche, sondern auch auf andere Glaubensgruppen, was viele kleine, wenig bekannte Kulturkämpfe nach sich zog. Es hätte indes eine große, weit über die Grenzen der Geschichte der Habsburgermonarchie hinausreichende Leistung Kliebers sein können, die religiösen Gruppierungen nicht als getrennte Blöcke darzustellen, sondern im Sinne Friedrich Wilhelm Grafs eine „shared history“ der Religionen und Konfessionen zu schreiben. Geteilte Erfahrungen und geteilter Alltag, Selbst- und Fremdbilder, Differenzierungen und Ent-Differenzierungen würden damit stärker in den Fokus geraten und viel zum Verständnis moderner Religionen beitragen.

Anmerkungen:
1 Noch immer grundlegend: Gottfried Mayer, Österreich als „Katholische Großmacht“: ein Traum zwischen Revolution und liberaler Ära (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 24), Wien 1989.
2 Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, IV: Die Konfessionen, Wien 1985, vgl. zuletzt auch einige Beiträge in Martin Schulze-Wessel (Hrsg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 27), Stuttgart 2006.

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